ANTON VOYLS FORTGANG / A VOID

HENRI CHOPIN, GUY DE COINTET, CHANNA HORWITZ

10.07.2013 - 24.08.2013

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Die KUNSTSAELE Berlin freuen sich die Ausstellung »Anton Voyls Fortgang« aus der Kunsthalle Düsseldorf zu Gast zu haben. Die Gruppenausstellung, kuratiert von Elodie Evers und Magdalena Holzhey, präsentiert herausragende Werke der frühen Konzeptkünstler Henri Chopin, Guy de Cointet und Channa Horwitz. Mit einer Auswahl von 32 Werken aus den 1960er- bis 1980er-Jahren richtet die Schau den Fokus auf grafische Arbeiten und betont damit einen Aspekt in den jeweiligen Œuvres, dem erst in jüngerer Zeit wieder verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Zeichnung tritt dabei als genuines Medium neben die performativen und multimedialen Ausdrucksformen, mit denen Chopin, de Cointet und Horwitz vor allem bekannt geworden sind.

1969 verfasste der französische Schriftsteller George Perec den herausragenden Roman La Disparition, (im Deutschen Anton Voyls Fortgang), in dem der Vokal E kein einziges Mal auftaucht. Der Roman zeigt, wie im Korsett einer strengen Regel die Sprache selbst die Rolle des Erzählers übernehmen kann. Perec's Werk war für zahlreiche Konzeptkünstler der Zeit eine wichtige Inspirationsquelle und Referenz. Im Einklang mit den Zielen der Gruppe OuLiPo (»Werkstatt für potentielle Literatur«) suchte er die Möglichkeiten der Sprache gerade dadurch zu erweitern, dass er ihr formale Zwänge auferlegte – eine Methode, die auch das Schaffen der in dieser Ausstellung erstmals gemeinsam gezeigten Künstler verbindet. Henri Chopin (1922 – 2008), Guy de Cointet (1934 – 1983) und Channa Horwitz (1932 – 2013) begannen ihre Arbeiten in den 1960er-Jahren zu entwickeln, einer Zeit, die vom aufkommenden Poststrukturalismus bestimmt war: Roland Barthes postulierte 1968 den Tod des Autors. Lesbarkeit sollte von nun an nicht mehr der alleinigen Macht des Urhebers unterworfen sein. Zeichensysteme wurden als willkürlich entlarvt und das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung problematisiert. In der Kunst stand vor allem die konzeptuell-systematische Auseinandersetzung mit Grundparametern unserer Erfahrung – Zeit, Raum, Sprache, Kommunikation – im Vordergrund. Auf ihre je eigene Weise widmen sich Chopin, de Cointet und Horwitz der Analyse von Bedeutungssystemen, arbeiten deren regelhafte Zusammenhänge heraus, wandeln sie um oder erfinden neue. Channa Horwitz' Zeichnungen sind der Ästhetik der Notation, dem engen Zusammenhang von Idee, Prozess und Werk verpflichtet. Mithilfe von Regeln erzeugt sie komplexe Strukturen, deren vibrierende Bildstruktur die ihnen zugrunde liegende Logik überdeckt. Chopin schiebt die Bildlichkeit seiner mit Schreibmaschine geschriebenen Buchstaben über ihre semantischen Zusammenhänge, während Guy de Cointet Bedeutungen in verschlüsselten Zeichen und Linien verbirgt. 

Henri Chopin war eine Schlüsselfigur der visuellen Poesie und Sound Poetry. Vor allem in seinen Schreibmaschinengedichten lotet er das Verhältnis von Chaos und Ordnung aus. Chopin zerlegt Wörter in ihre einzelnen Buchstaben, greift ihre Ornamentik auf und verdichtet sie zu einem grafischen Bild. So konfrontiert er die Bedeutung der Sprache mit der Möglichkeit einer unendlichen Transformation ihrer Zeichen. Papier und Schreibmaschine gehen eine ungewöhnliche Beziehung ein, die in Überlagerungen, Kreuzungen, Umkehrungen und Erweiterungen der Schriftelemente mündet. Durch farbliche Absetzungen und die Methode des Übertippens entstehen Schriftbilder mit räumlicher Tiefe, die von Präzision, Feinsinn und Humor zeugen. Henri Chopin prägte nicht nur als Künstler und Klangpoet die zeitgenössische Poesie entscheidend mit, sondern auch als Publizist. In seinen experimentellen Zeitschriften Cinquieme Saison (1959 – 1963) und Revue OU (1964 – 1974) veröffentlichte er neben seinen eigenen Arbeiten auch Werke anderer Künstler, etwa von Raoul Hausmann, William Burroughs oder François Dufrêne. 

Der in Frankreich geborene Konzeptkünstler Guy de Cointet, den man auch den »Duchamp Los Angeles'« nannte, war von den späten 1960er-Jahren bis zu seinem frühen Tod ein einflussreiches Mitglied der kalifornischen Kunstszene. Sein grafisches Werk, welches in den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden ist und über 300 Zeichnungen umfasst, kann aufgrund der verwendeten Codes aus heutiger Sicht wie eine Vorwegnahme der nahenden Digitalisierung gelesen werden. De Cointet's Interesse galt der Populärkultur, aber auch alltäglichen Begebenheiten und Abenteuergeschichten, die er in Spiegelschrift, Militärcodes und frei erfundene Verschlüsselungen übersetzte. Für andere Zeichnungen bediente er sich der Kalligrafie oder der Farbcodes von Navajo-Indianern. Dabei ging es ihm nicht um die Lesbarkeit der Arbeiten, auch wenn deren Entzifferung durchaus möglich ist. Vielmehr lag ihm an der Übertragung von Sinn in visuelle Zeichen, die selbst zu Bildern werden und so wieder multiple, endlose Bedeutungen generieren. Die Arbeiten faszinieren formal durch ihre Reduktion, die fließende Dynamik der Zeichen und ihre geradezu spirituelle Abstraktion. Alles scheint perfekt ausgewogen, harmonisch. Der Künstler liebte das Spiel mit Identitäten und arbeitete unter verschiedenen Heteronymen. So wandte er seine Faszination für Codes und Rätsel auch auf seine eigene Künstlerpersönlichkeit an und veröffentlichte zahlreiche Werke unter anderem Namen. 

Die kürzlich verstorbene kalifornische Künstlerin Channa Horwitz war eine Grenzgängerin zwischen Zeichen und physischer Aktion und arbeitete seit Anfang der 1960er-Jahre an einem mathematisch basierten, zeichnerischen System, das es ihr erlaubt, Bewegung und Zeit zu visualisieren. Fast alle ihrer schwarz-weißen und farbigen Arbeiten beruhen auf einem Gitter aus horizontalen sowie vertikalen Linien und verwenden neben geometrischen Grundformen die Zahlenfolge eins bis acht, die Horwitz in immer neuen Variationen durchdeklinierte: Ein Algorithmus, der sich zu Strukturen von schwer entschlüsselbarer Komplexität verdichten kann. Obwohl die Strenge ihres Regelwerks beinahe hermetisch wirkt, entfalten die feinen Zeichnungen einen eigentümlichen visuellen Reiz. Er entsteht ebenso aus der räumlichen Sogwirkung vieler Blätter, deren Linien, auf Transparentpapier aufgetragen, fast schwebend erscheinen, wie auch aus der sichtbaren Spannung zwischen programmiertem Ablauf und gezeichneter Linie, zwischen Regelwerk und Freiheit innerhalb eines komplexen künstlerischen Systems, das Horwitz selbst als »visuelle Philosophie« bezeichnet hat. 

Die Ausstellung wurde von Elo­die Evers und Magda­le­na Holz­hey kuratiert.

Zur Aus­stel­lung ist eine Pu­bli­ka­ti­on mit ei­ner Ein­lei­tung von Elo­die Evers und Magda­le­na Holz­hey, ei­nem Es­say von Gre­gor Stemm­rich so­wie ein­füh­ren­den Tex­ten zu den drei Künst­lern von Ma­rie de Bru­ge­rol­le, Lu­ca Ce­riz­za und Chris Kraus erschienen.

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KUNSTSAELE Berlin is pleased to host the exhibition »A Void« from Kunsthalle Düsseldorf. The groupshow, curated by Elodie Evers and Magdalena Holzhey, presents outstanding works of the early concept artist Henri Chopin, Guy de Cointet und Channa Horwitz. With a selection of works each dating from the nineteen sixties to the nineteen eighties, the show focuses on works on paper, thus emphasizing an aspect of their work that has first attracted renewed and increasing attention in recent years. Drawing appears in the process as a genuine medium alongside the performative and multimedia forms of expression with which Chopin, de Cointet and Horwitz have largely become known.

In 1969, the French author George Perec wrote the extraordinary novel La Dispari- tion (published in English under the title A Void, and in German as Anton Voyls Fortgang) in which the vowel E does not appear. The novel shows how language can assume the role of the narrator even when it is bound in the corset of a strict rule. Perec‘s work was a major source of inspiration and point of reference for numerous contemporary concept artists. In accordance with the aims of the OuLiPo group (»Workshop of Potential Literature«) Perec sought to expand the potentials of language by means of self-imposed formal constraints—a method that is similarly binding for the oeuvre of the three artists whose works are being shown togeth-
er for the first time in this exhibition. Henri Chopin (1922 – 2008), Guy de Cointet (1934 – 1983) and Channa Horwitz (1932 – 2013) began developing their works in the nineteen sixties, a time that was defined by the approach of post-structuralism: In 1968, Roland Barthes postulated the death of the author who now no longer held sole power over legibility. Semiotic systems were debunked as arbitrary and the prob- lem of the relationship between sign and meaning as well as the changeability of constructions of meaning were explored. In art, the focus was placed in particular on the conceptual systematic dealing with the basic parameters of our experience: time, space, language and communication. Each in their own way, Chopin, de Cointet and Horwitz dedicated themselves to analyzing systems of meaning and working out their rules-based connections, transforming or reinventing them in the process. Channa Horwitz‘ drawings are indebted to the aesthetics of notation, the close link between idea, process and work. With the help of a set of rules she creates complex structures whose vibrating pictorial structure masks their underlying logic. Chopin slides the imagery of the typed characters over their semantic contexts while Guy de Cointet conceals meaning in coded signs and lines.

Henri Chopin was a key figure in visual and sound poetry. Particularly in his type-
writer poems he explores the relationship between chaos and order. Chopin breaks
down words into their individual letters, takes up their ornamentations and dis-
tils them down into graphic images. In doing so, he confronts the meaning of lan-
guage with the possibility of an infinite transformation of its signs. Paper and
typewriter enter into an unusual relationship, which leads to overlappings, cross-
ings, reversals and expansions of writing‘s elements. Precise, subtle and humorous
written images with a spatial depth structure are created through accentuations of
color and the method of overtyping. Henri Chopin not only had a decisive influence
on contemporary poetry as an artist and sound poet but also as a journalist. Alongside his own works he also published pieces by other artists such as Raoul Haus- mann, William Burroughs and François Dufrêne in his experimental journals Cinquieme Saison (1959 – 1963) and Revue OU (1964 – 1974).

The French-born conceptual artist Guy de Cointet, named »Los Angeles‘ Duchamp« by
some, was an influential member of the Californian art scene from the late nineteen
sixties until his untimely death. His graphic oeuvre encompassing over 300 draw-
ings produced in the nineteen seventies and eighties can be read from a present-day
perspective like a precursor of the impending digitalization age because of the em-
ployed codes. De Cointet‘s interest was focused on pop culture, but also on every-
day situations and adventure stories that he translated into mirror writing, mili-
tary codes and fictitious ciphers. In other drawings he made use of calligraphy or
Navajo color codes. In the process, he was not concerned with the legibility of the
works, which can by all means be decoded. He was instead interested in the trans-
lation of meaning into visual signs that become an image, generating in turn mul-
tiple, infinite meanings. In formal terms, the works fascinate us because of their
reduction, the flowing dynamism of their signs and their nearly spiritual abstrac-
tion. Everything appears perfectly balanced, harmonious. The artist loved playing
with identities and worked under various heteronyms. In doing so he applied his
fascination for codes and puzzles to his own artistic persona and published works
under different names.

The recently deceased Californian artist Channa Horwitz worked at the threshold
between signs and physical action, occupying herself with a mathematically-based
system of drawing since the early nineteen sixties, one that enables her to visual-
ize motion and time. Almost all of her black and white as well as colored works are
based on a grid of horizontal as well as vertical lines, on basic geometric shapes
as well as the sequence of numbers from one to eight that Horwitz declined like
verbs in ever new variations: it is an algorithm that can condense into structures
of nearly undecodable complexity. Although the strictness of her rules makes an
almost hermetic impression, her fine drawings display a peculiar visual appeal. This
derives in equal measure from the spatial vortex visible in many of the drawings,
the lines of which applied to tracing paper almost seem as if they were hovering in
thin air, as well as from the visible tension between the programmed procedure and
the drawn line, between sets of rules and freedom within a complex artistic system
that Horwitz herself characterized as a »visual philosophy.«

The exhibition was curated by Elodie Evers and Magdalena Holzhey.

The exhibition is accompanied by a publication featuring an introduction by Elodie
Evers and Magdalena Holzhey, an essay by Gregor Stemmrich as well as introductory
texts on the three artists by Marie de Brugerolle, Luca Cerizza and Chris Kraus.

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